Fotos: Donovan Wyrsch ©

Heroes of the Overground/Die Erben

von Lucien Haug

Junge Marie

Eine Gruppe Jugendlicher hat die beste Antwort auf alles gefunden. Sie verschwinden, verdünnisieren sich, kriegen Beine. Sie ghosten die Welt und sind nicht mehr da. Denn es gibt ja auch zu viele Menschen, die Scheisse bauen und andere Lebewesen sind schliesslich auch schon verschwunden im Laufe der Zeit. Aber wer hätte ahnen können, dass ausgerechnet dann alle auf einen schauen, wenn man will, dass niemand auf einen schaut?

In Zusammenarbeit mit dem Autoren Lucien Haug und auf Grundlage von Recherchen in Aargauer Schulklassen erarbeiten wir, was die Wünsche und Befürchtungen der Generationen sind, die noch am längsten mit den Folgen des Klimawandels leben werden.

Mit: Sophie Angehrn, Friederike Karpf, Ener Yagcioglu; Regie: Simon Kramer; Dramaturgie und Produktionsleitung: Sophie Achinger; Bühne&Kostüme&Technik: Andreas Bächli; Sound: Daniel Steiner; Vermittlung: Hannah Berner; Assistenz: Alexander Flückiger; Grafik: Alexa Deck; Partnerklasse: Berufsfachschule Gesundheit und Soziales Brugg FaBeK 1B

Die 13 Regeln des Verschwindens

1. Bereite dich möglichst früh darauf vor, dass du längere Zeit alleine oder in einer kleinen Gruppe leben wirst. Dies hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, in erster Linie aber auf deine Psyche und deine Alltagsgestaltung. Gewöhne dich an analoge Unterhaltung: beginne Bücher zu lesen, Brettspiele zu spielen, Essen selber zu kochen. Löse dich von der digitalen Welt, so gut es geht. Dann wird dir alles leichter fallen.

2. Suche dir einen Ort aus, an dem du längere Zeit bleiben kannst und willst. Dabei geht es nicht nur um einen Ort im geografischen Sinne, sondern auch um eine Bleibe. Wichtig: dieser Ort darf sich nicht mitten in der Stadt befinden (Kameraüberwachung). Du brauchst ein Dach über dem Kopf. Besonders gut eignen sich verlassene Gebäude: Scheunen, industrielle Anlagen, Bunker. Hotels, kostenpflichtige Unterkünfte u.ä. sind streng verboten, da eine Identifizierung nötig ist. Falsche Ausweise sind nicht zu empfehlen, da unzuverlässig und Beschaffung kompliziert.

3. Verstecke im Ausland (Frankreich, Deutschland, Italien) sind unter Umständen sehr viel sicherer, da für die Behörden bei der Fahndung verwirrender, jedoch muss dabei eine gewisse Unkontrollierbarkeit in Kauf genommen werden (Grenzübertritt, ev. fehlendes geografisches Wissen, Sprache, Andersbehandlung durch die Polizei, fremde Sitten und Gebräuche). Verstecke nahe dem eigenen Daheim können durchaus wirksam sein, bedenke jedoch allfällig aufkeimendes Heimweh und siehe 5.

4. Suche dir mindestens eine Ausweichunterkunft aus, die sich in unmittelbarer, aber sicherer Nähe (ca. 2 Stunden Fussmarsch) befindet. Inspiziere vor deinem Verschwinden beide/alle Bleiben – wenn möglich, nimm bereits einige Utensilien mit und vergrabe/verstecke sie vor Ort.

5. Wichtig: Keine dieser Unterkünfte darf etwas mit deinem bisherigen Leben zu tun haben. Weder ganz real (du darfst dort ausser zur Inspektion noch nie gewesen sein), noch ideel (der Ort darf nichts mit deinen Interessen, deinen Leidenschaften oder sozialen Kontakten zu tun haben).

6. Versuche, möglichst alleine, zu zweit oder allerhöchstens in Fünfergruppen zu verschwinden. Alle Konstellationen haben ihre Vor- und Nachteile. Zu viele Menschen erregen Aufmerksamkeit. Zu kleine Gruppen sind psychisch belastender und fallen früher auseinander.

7. Melde dich bei deinem Umfeld ab. Gib einen glaubwürdigen, nicht zu originellen Grund an. Je früher du ihn ankündigst, desto besser. Ist jemand erstaunt, dann sage: das habe ich dir doch schon vor einem Monat erzählt! Dein vorgeschobener Aufenthalt (Lager, Ferien etc.) sollte mindestens eine Woche dauern. Das gibt dir einen ebenso langen Vorsprung.

8. Werde kurz vor dem Verschwinden alle elektronischen Geräte los. Verbenne, zerschlage, zerteile sie oder wirf sie früh genug in den Abfall. Lass dich zu keinerlei sentimentalen Abschieden hinreissen. Dann warte mindestens einen Tag, bevor du gehst.

9. Werde unmittelbar vor deinem Verschwinden dein Portemonnaie los. Hebe all dein Geld am Bahnhof ab und wirf danach die Brieftasche in einen Abfalleimer.

10. Bewege dich zuerst in die von dir deinem Umfeld vorgelogene Richtung. Jemand könnte dich schliesslich am Bahnhof o.ä. sehen. Dann wechsle die Richtung mindestens dreimal, bevor du in Richtung deiner Unterkunft reist. Wichtig: bei jedem Richtungswechsel musst du deine Kleidung ändern, zwecks Unkenntlichmachung (Kameraüberwachung).

11. Bist du an deinem Zielort angekommen, musst du versuchen, dich möglichst selten von Ort und Stelle zu bewegen. Bleib soviel im Inneren wie es geht. Weiche Begegnungen mit Menschen grundsätzlich aus. Sind diese unabwendbar, dann bringe sie locker und selbstverständlich hinter dich. SEI NORMAL UND ENTSPANNT, DANN GLAUBT MAN DIR ALLES.

12. Dein soziales Netzwerk endet mit deinem Verschwinden. Du hast keine Freunde mehr, kannst nicht mehr kommunizieren, bist auf dich allein gestellt. Sei dir dessen vor deinem Abgang bewusst. Das Gelingen deiner Aktion liegt in deinen Händen.

13. Es gibt kein Gelingen, da deine Aktion kein vorgegebenes Ende hat. Dies musst du aushalten können. Stelle es dir so vor: jede Minute, die du nicht anwesend bist, ist eine, auf die du stolz sein kannst.